(Be-)Deutungsansprüche in qualitativer Forschung

Posterpräsentationen

 

Die Reflexion der Konversationsanalyse durch die Systemtheorie: Interaktion als Untersuchungsgegenstand

 

Yesim Kasap Cetingök (Innsbruck)

 

 

Im Fachbereich der Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt wurde eine Vorstudie zu der Frage geführt, wie sich in Beratungsgesprächen im Übergang in die Sekundarstufe I mit autochthonen Eltern, die in der Forschung genannten familiären sowie schulischen Faktoren im Vergleich zu Migranteneltern Sequenz für Sequenz aktualisieren und anordnen bzw. auf welche Weise die Bildungsentscheidung erfolgt. Die Analysemethode der Beratungsgespräche wird durch die Reflexion der konversationsanalytischen Forschung anhand der Systemtheorie (vgl. Hausendorf 1992) gewonnen. Die folgenden Reflexionspunkte können auf der Tagung diskutiert werden. Dabei soll gezeigt werden, warum der Gegenstand der Beratungsgespräche mit den Mitteln der Systemtheorie modelliert und schließlich methodisch mit der Konversationsanalyse untersucht wird.

 

1Zur Erfassung des jeweiligen Gesprächs als Interaktionssystem: Die Unterscheidung der sozialen und psychischen Systeme

 

Die konversationsanalytische Forschung impliziert zwar als Gegenstand ein soziales Interaktionsgeschehen, dessen Einheiten und Strukturen durch eben jene und mit diesem Geschehen rück- bzw. selbstbezüglich hergestellt werden. An diese Form der Gegenstandskonstitution sind Konzepte von Selbstreferenz bzw. Autopoiesis der Systemtheorie unmittelbar anschlußfähig: Mit Hilfe dieser Konzepte werden Systeme definiert, „die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren“ (Luhmann 1985: 403). Bei Luhmann werden jedoch diese Konzepte auf soziale Systeme, in Ansätzen auch auf psychische Systeme, übertragen (vgl. Luhmann 1984; 1985; 1988). Die Unterscheidung der Systemarten setzt diese Konzepte um, insofern sie impliziert, dass man kommunikative Vorgänge ohne Rückgriff auf die bei den Beteiligten jeweils ablaufenden mentalen bzw. kognitiven Prozesse analysieren kann; indem sie annimmt, daß Kommunikation und Bewußtsein jeweils eigenständig zum Gegenstand zu erhebende Ebenen der Emergenz sozialer vs. psychischer Realität darstellen. Interaktionssysteme sind prinzipiell an sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsformen gebunden. Die Rekonstruktion des Interaktionsprozesses kann (und muß) ohne Rückgriff auf externe Parameter erfolgen, weil jede tatsächlich erfolgte Einflußnahme auf die Interaktion an der Interaktion selbst, d.h. auf der Ebene ihrer sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungsformen, ablesbar ist.

 

2Sprachliche Äußerungsformen als spezielle Semantiken als Möglichkeit zur Erfassung der Umwelten und der Makrostrukturen

 

Für die Gespräche institutioneller Interaktion kommt der Semantik besondere Bedeutung zu. Organisationen im Sinne der (Sub-)Systeme manifestieren sich sprachlich in Form von speziellen Semantiken (vgl. dazu Luhmann 1982:21) in der Interaktion. Derartige Codes der Kommunikation, die auf ein spezifisches soziales (Sub-)System verweisen, werden verwendet, um dieses auch außerhalb von Interaktion bestehende Wissen interaktiv wiederherzustellen (vgl. auch Hausendorf 2002). In theoretischer Hinsicht macht das Konzept der interaktiven Wiederherstellung von Umwelt explizierbar, wie innerhalb selbstreferentiell geschlossener Interaktionssysteme an nicht-interaktionsgebundene Aspekte sozialer Wirklichkeit angeknüpft werden kann. Das ermöglicht wiederum eine innerhalb der Konversationsanalyse bislang kaum systematisch erfolgte Miteinbeziehung globaler bzw. makrostruktureller gesellschaftstheoretischer Konzepte.

 

3Die Unterscheidung zwischen dem Gegenstand und der Beobachtung

 

Die gängige Gewissheit in der deutschsprachigen Rezeption der Konversationsanalyse ist, dass die audiovisuelle Aufzeichnung von Gesprächen als einen rein „registrierenden Konservierungsmodus" sozialer Wirklichkeit betrachtet wird.  Die Annahme dabei ist, dass mit der technischen Reproduktion sinnlich wahrnehmbarer Erscheinungsformen der konstruktive, d.h. Wirklichkeit erzeugende und hervorbringende vs. abbildende und wiedergebende Prozess der Beobachtung einsetzt. Wenn von der selbstreferentiellen Geschlossenheit der Beobachtung ausgegangen wird, dass auch die Elemente, Strukturen und Einheiten der Beobachtung durch diese Elemente, Strukturen und Einheiten der Beobachtung produziert und reproduziert werden - kann der Tatsache Rechnung getragen werden, dass in den Beobachtungsvorgang Umweltkontakte eingehen; dass die Beobachtung die Wirklichkeit ihres Gegenstandes entdeckend wiederherstellt. In der Eigentümlichkeit dieser Wiederherstellung von Welt- und Wirklichkeitsaspekten, die auf der Differenz von Beobachtung und Gegenstand basiert, liegt die Charakteristik des Beobachtungssystems bzw. des systemtheoretisch angelegten Forschungsprozesses.

 

Literatur:

Hausendorf, Heiko. (1992). Gespräch als System. Linguistische Aspekte einer Soziologie der Interaktion. Opladen: Westdt.Verl.

Hausendorf, Heiko (2007): Gesprächs-/Konversationsanalyse. In: Jürgen Straub/Doris Weidemann (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, S. 403-415. Stuttgart: Metzler.

Luhmann, Niklas/Schorr, Karl-Eberhard (1982). Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (1984). Doppelte Kontingenz. In: N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, S. 148-190. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (1985). Die Autopoiesis des Bewußtseins. Soziale Welt 36, S. 402-446.

Luhmann, Niklas (1985). Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt? In: H.U Gumbrecht/ K.L. Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, S. 884-905. Frankfurt am Main. Suhrkamp.



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